Kiautschou - Das deutsche Pachtgebiet Chinas


Panoramablick auf Tsingtau - Die Pachtkolonie wurde als deutsche Musterkolonie ausgebaut

Um im Konzert der Mächte in der vordersten Reihe mitzuspielen, fehlen Kaiser und Reich die entsprechenden Rollen im von England, Frankreich, Russland, Japan und den USA umkreisten China. »Sollte der deutsche Handel immer mehr aufhören, ein Zwischenträger zwischen englischen und chinesischen Erzeugnissen zu sein und deutsche Waren auf den asiatischen Markt werfen, so bedarf es eines Geschwaders und eines eigenen Hongkong«, dozierte einmal Großadmiral Tirpitz.

Der Deutsche würde auch hier verspätet kommen, ließ die Endphase kolonialer Erwerbungen doch nur noch die Aufholjagd zu. Doch China war groß, in China fanden vorrückende Imperialisten, wenn sie nur die Kanonen dazu hatten, noch allemal einen Platz. Die längste Zeit war es so gewesen: »In China zu missionieren ist eine große und unverdiente Gnade, ein Glück, das der liebe Gott nur wenigen schenkt« (Augustin Henninghaus aus dem westfälischen Menden, SVD-Missionar). Das Arbeitsfeld ist gigantisch, immens, kolossal, wird rund 450 Mio Kindern des Drachens doch absolute Gleichgültigkeit gegenüber der Religion nachgesagt. »Wenn Mangel an Raum zur Unterbringung der Feldfrüchte herrscht, so wird ohne weiteres der Tempel als Lagerraum mit herangezogen.«

Chinesen sind Menschen, die ihre Jahre nicht nach Anno Domini, sondern nach Ratte, Hase, Hund, Schwein, Affe, Schlange usw. ausrichten. In China sitzt »der Herr des Himmels« auf einem Drachenthron. Chinesen sind somit areligiös. Missioniert wird seit dem 7. Jahrhundert, wobei der Gottesmann seine Aufgabe in der Regel im rein religiösen Sinne sah: »Seine Triebfeder ist das Erbarmen mit einer Menschheit, welcher das christliche Heil nicht zu theil geworden ist«, so Ferdinand Frhr. v. Richthofen, Geograf und Geologe aus dem oberschlesischen Carlsruhe, nach einer Reise durch Schantung.

Die Missionen hatten sich ganz bewusst auf das eine konzentriert, »damit alle Völker der Erde, auch das chinesische, eingehen werden in den Schafstall des einen guten Hirten« (Freinademetz). Eine gezielte nationale Orientierung gab es nicht. Den Erfolg zügelte, dass fremdenfeindliche Chinesen in Jesus den potenziellen Gegner sahen, da mit ihm die Dominanz des weißen Mannes begann und weiß ist in China die Farbe der Trauer. Die aktuelle Geschichte kann dem nicht widersprechen, lebt die militärische, zivile und amtliche Vertretung der christlichen Mächte, die die Besetzung vollzogen haben, so P. Josef Freinademetz, doch nicht christlich. Kulturbringer sind die Weißen, die hier wie Barbaren auftreten, tatsächlich nicht.

Wenig hilfreich daneben, dass sich Europäer und Chinesen auch weiterhin nicht riechen können, obwohl sie sich durchaus riechen. Söhne und Töchter des Drachens gelten als ungemein schmutzig, von deutscher Art und Sitte keine Spur. Tatsächlich wäscht sich Schantungs Landbevölkerung so richtig nur alle zwölf Monate, das zu Neujahr, dem Fest voller Vorbereitungen irgendwann zwischen einem 21. Januar und 20. Februar. Dazu geht dem Chinesen, mit kolonialer Herablassung gerne Schlitzauge, Zopfträger oder eben Stinker genannt, die tolle Knolle Allium sativum über (fast) alles, ist sein Land ein regelrechtes Paradies für Knoblauchesser. Selbst wenn man ihn nicht vor sich hatte, riechen konnte man ihn immer. Der Deutsche sollte, als es so weit ist, den Schantung-Chinesen den Fasan für die Jagd, insektenfressende Vögel und die Erdbeere für den Nachtisch bringen (lokale Birnen und Äpfel schmeckten etwas holzig), ihnen zeigen, wie man Aale räuchert. Als Gegenleistung forderte er dafür bei Kiautschous (Tsingtau) Rikschafahrern und Hausangestellten ganz offiziell den Verzicht auf Knoblauchkonsum.

Die Chinesenseite sieht es ganz anders, kommt in Selbstdarstellungen geradezu »blumenartig« daher. Für sie sind es die Weißen (Langnasen oder Hühnerherzen), die »wie Raubtiere« riechen. Geruchstest oder Eigengeruch, was für den vermehrten Hass der Chinesen viel gravierender ist: Mit dem Vordringen imperialistischer Mächte waren katholischen Missionen - seit den Tagen von Papst Klemens mit dem Drachenthron über Kreuz - viele Privilegien eingeräumt worden. Mit jedem neuen Friedensschluss, mit dem Vertreter des zivilisierten Abendlandes das »unzivilisierte, unaufgeklärte« alte Kulturland knebelten, wurden weitere Zugeständnisse erzwungen.


Der deutsche Titularbischof Johann Baptist Anzer

Als der deutsche Titularbischof Johann Baptist Anzer die politische Bühne betritt, stehen Chinas knapp 545.000 katholische Christen (35 Bischöfe, 565 europäische und 542 chinesische Priester) unter französischem Protektorat. Missionare erfreuen sich weitgehender Handlungsfreiheit, ihre Stationen liegen auf chinesischem Boden, doch außerhalb der chinesischen Regierungsgewalt. Mit den Franzosen fahren die Gottesleute so auch sicher nicht schlecht. Zwei Jahre, nachdem Kölns Erzbischof Krements den Bayer Anzer in der Kirche des Steyler Missionshauses zum ersten Missionsbischof weihte, wird der Preuße Wilhelm (II.) deutscher Kaiser. Von ihm erhält Max v. Brandt, Deutschlands Gesandter in Peking, den Auftrag, den Missionar zum Wechseln der Schutzmacht zu drängen. Anzer lässt diesbezüglich in Rom nachfragen, stellt danach mit Wissen Seiner Heiligkeit Leo XIII. das Missionsfeld unter den diplomatischen Schutz des Reiches. Wahrscheinlich wäre es dabei geblieben, Anzer eines Tages wie andere vor ihm im Nebel der Geschichte untergetaucht, hätten »ruchlose Mörderhände« Berlin nicht schon bald gefordert, sein Schutzversprechen auch einzulösen. Erst mit der kolonialen Machtdemonstration, das den Deutschen im Standort China ein »Klein-Deutschland über See« (Tsingtau) zuführt, erweist sich das Ausmaß der Vermischung von christlicher Mission und nationalistischem Geist. Am 1. November 1897 wurden die Missionare Richard Henle und Franz Xaver Nies von Chinesen ermordet. Anzer, der sich gerade in Europa befand, eilte nach Berlin. Der Kaiser schickte zwei Kriegsschiffe nach Kiaotschou und nützte den Anlass zur Besetzung. Dadurch wurde Tsingtau Missionszentrum.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Der frühe deutsche China-Handel

Deutsch-China war Tsingtau, eine deutsche Stadt am Gelben Meer, ein kleines Pachtgebiet mit großer Interessensphäre. Für das Kaiserreich war es von nationalem strategischen Interesse in China Fuß zu fassen, in kurzer Zeit sollte Tsingtau gar zur populärsten deutschen Überseebesitzung werden, was die Deutschen bis heute nicht vergessen haben.


Die Hamburg-Amerika-Linie - 1890 trat die Hamburg-Amerika Linie nach Übernahme der Kingsin-Linie in den regelmäßigen China-Verkehr ein, der als dritte deutsche Reederei 1896 Rickmers folgte. Nach Tonnage und Menge nahm die deutsche Schifffahrt mit einigem Abstand nach den britischen China-Einfuhren den zweiten Platz ein

Anzer kann dank des persönlichen Wohlwollens von Kaiser, Bülow und Caprivi den Zugang in die engere Heimat des Konfuzius erzwingen. In Tsining (Jining), nach dem Umzug von Puoli bedeutendste Stadt seines Vikariats, und Yenchow (Yanzhou), »der Hochburg des Heidentums«, entstehen Steyler Missionsstationen. In und um Tsingtau kann der Missionar Seelen ganz systematisch erobern, da das Reich den Gehorsam durch Gesetze und Strafen erzwingt.

1897 wird Anzer »als einer der bedeutendsten katholischen Missionsbischöfe« vom bayrischen Prinzregenten geadelt. Als man ihn sechs Jahre später nach einem Hirnschlag auf Roms Campo Santo Teutonico zur letzten Ruhe bettet, existiert in seinem Schantunger Missionsgebiet »ein herrlicher Kreis neuchristlicher Gemeinden« (Henninghaus). Den Steylern ist die katholische Militärfürsorge für die Tsingtauer (Seebatallion und Marineinfanterie) zugefallen. P. Arnold Janssen, der den Missionsorden stiftete, und P. Josef Freinademetz, der durch heroische Tugendübungen ein vorzügliches Zeugnis für das Himmelreich ablegte, würden »kraft unserer apostolischen Autorität« vom Heiligen Stuhl eines Tages ins Buch der Heiligen eingeschrieben. Anzer zieht als legendäre Übergröße in den Mythen-Fundus des deutschen Volkes ein, allerdings auch als erheblich beschädigter Gottesmann.

China kann eine längere deutsche Handelsgeschichte vorweisen, als Tsingtau deutsche Kolonie war. Seit der Gründung der »Handlungs-Compagnie von Emden auf China« anno 1750 war viel Wasser die Ems, dann auch den in die Kiautschou-Bucht mündenden Haipo hinuntergeflossen. Die Deutschen hatten den Handel mit China nicht aus den Augen gelassen, Europas Mächtekonstellationen ihnen jedoch ganz andere Prioritäten aufgezwungen. Rund 100 Jahre waren verstrichen, in denen sie hilflos zusehen mussten, wie imperialistische Großmächte das Land in Einflusssphären aufteilten. Wer die Kanonenboote und Bajonette dazu hatte, sicherte sich Handelsprivilegien, Niederlassungsrechte, Exterritorialität und Zollautonomie. Alleine der erste Opiumkrieg (jener von 1839-42) hatte England mit Hongkong belohnt, Deutschlands europäischer Konkurrenz und dem britischen Opiumhandel zusätzlich fünf weitere Vertragshäfen geöffnet. Und wo es einst nur um Handelsklauseln zur wirtschaftlichen Expansion gegangen war, würden jetzt auch mehr und mehr militärisch-strategische Vorstellungen mitspielen.

Die deutschen Staaten mussten befürchten, aufgrund erzwungener Privilegien von einem der größten Weltmärkte ausgeschlossen zu bleiben. Einer wie Eduard Bernstein, Politiker und Redakteur der Zeitung »Sozialdemokrat«, meldet sich entsprechend zu Wort: »Das deutsche Volk hat kein Interesse daran, dass China aufgeteilt und Deutschland mit einem Stück Reich der Mitte abgefunden wird. Aber das deutsche Volk hat ein großes Interesse daran, dass Chinas Handelspolitik nicht dem Interesse einer einzelnen fremden Macht oder einer Koalition fremder Mächte untergeordnet werde, kurz, dass in Bezug auf alle China betreffenden Fragen Deutschland ein entschiedenes Wort mitzusprechen habe. Sein Handel mit China erheischt ein solches Einspruchsrecht.«

Wenn Deutschland in Ostasien Flagge zeigen wollte, kam es ohne den Rückhalt kohlebefeuerter Dampfschiffe nicht aus. Ofenbedarf ist auf der Suche nach Sonnenplätzen, »die in erster Linie deutsch sind, dem Handel und der zur maritimen Machtentfaltung notwendigen Logistik dienen«, ein ganz gewichtiges Argument. Richard v. Carlowitz, Preußens handelspolitischer Vertreter in Kanton, rief lautstark nach militärisch-deutscher Präsenz, Handelspioniere wie Wilhelm v. Pustau oder Georg T. Siemssen, die sich an Chinas Küste etabliert hatten, nach einem sicheren Anlaufplatz für Handelsschiffe. Salonion Heine, Hamburgs Rothschild und Onkel Heinrich Heines, investierte im Chinageschäft. Von einer Reise, die Chinas Häfen dem preußisch/deutschen Handel öffnen sollte, kommt der Düsseldorfer Kommerzienrat Friedrich W. Grube trotzdem mit leeren Händen zurück.


Die SMS Arcona vor Chinas Küste
Bundesarchiv


Auf der SMS Arcona

1859 richten Preußen (zugleich für den Zollverein), die Hansestädte und die beiden Mecklenburgs eine dreijährige Expansionsreise aus, die in Siam, Japan und China Handels- und Freundschaftsverträge nach der Großmächte Vorbild abschließen soll. Kommandant des Geschwaders - das Flaggschiff Arcona, als erste Schraubenfregatte der Stolz der preußischen Marine, der Segelschoner Frauenlob, die Segelfregatte Thetis und das Transportschiff Elbe - ist Konteradmiral Hindrik Sundewall. Die politische Leitung übernimmt Friedrich (»Fritz«) Albrecht Graf zu Eulenburg, dem man dafür den Rang eines Außerordentlichen Gesandten verleiht. Mit an Bord der Arcona ist Ferdinand Frhr. v. Richthofen, der für die Einrichtung Deutsch-Chinas einmal die Stichworte gibt. Es ist der Oberschlesier, der nach einer Reihe zusätzlicher Chinareisen auf die Bedeutung der Kiautschou-Bucht und das anschließende Hinterland als maritimen und handelspolitischen Ansatzpunkt hinweisen würde. Wären die Vorteile »der Baumwolle, dem Eisen und anderen Produkten ein leichter Ausweg und den Importen ein billiger Zugang« dort doch so groß, dass sie Nachteile verschwindend klein machen würden.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Deutsche Konzessionen für chinesische Häfen

Der Ostasien-Expedition des Grafen Eulenburg fehlt vorerst der günstige Stern. Der von deutschen Frauen über Sammelaktionen finanzierte hölzerne Segelschoner Frauenlob unter Kapitänleutnant Retzke sinkt während eines Taifuns in japanischen Gewässern. Überlebende gibt es nicht.

Erste Wahl ist die Kiautschou-Bucht für einen preußisch-deutschen Hafen in China nicht, doch es zu berücksichtigen, dass geeignetere Landstriche zu diesem Zeitpunkt an Chinas Küste nicht mehr zu haben sind. Die Bucht liegt etwas außerhalb bevorzugter Seerouten, was Reedereien einen Zeit- und damit Geldverlust aufzwingt. Das Anlaufen könnte man durch entsprechende Hafenanlagen, eine moderne Infrastruktur und die Verbindung ins Hinterland trotzdem attraktiv genug machen, damit Schiffe aller Flaggen einfach kommen mussten. Als sich die Deutschen in Schanghai für die Öffnung von Vertragshäfen erklären, müssen sie erkennen, dass die Chinesen zwar England, Frankreich, Amerika und Russland kennen, von einer Großmacht Preußen jedoch noch nie etwas hörten. Der Weg nach Peking bleibt der Gesandtschaft versperrt.


Graf Eulenburg

Wenn es »Fritz« zu Eulenburg doch noch zum Abschluss eines preußisch-deutsch-chinesischen Handels- und Schifffahrtsvertrags bringt, dann nur im Konzert der Westmächte und unter Androhung von Gewalt. Haben sich die Großmächte doch darauf geeinigt, dass alles, was China schwächer macht, ihren ureigenen Interessen entgegenkommt. Zum ersten Mal hat Deutschland im Asienhandel jetzt einen gleichberechtigten Platz. Was den Marinen des Norddeutschen Bundes, danach des Deutschen Reiches weiterhin fehlt, ist der eigentliche ostasiatische Brückenkopf. Ein Flottenstützpunkt unter deutscher Gebietshoheit mit Reparatur-und Ausrüstungshafen, Kasernen, Übungsplätzen und Lazarett, der Kriegs- und Handelsschiffen gemeinsam dient.


Hankou, britisches Hafenviertel - Nördlich davon besaß das Deutsche Kaiserreich Konzessionen, womit ein Hafenviertel den Deutschen zur Verfügung stand. Es befand sich zwischen dem französischen und japanischen Hafenviertel


Eine deutsche Maschinengewehrabteilung und Ambulanz des Landungskorps in Hankou während des Boxerkrieges

Daran sollte sich vorerst nichts ändern. Deutschlands Marinen bleiben auf die logistische Unterstützung, immer auch auf die Gastfreundschaft besonders der Engländer angewiesen, was für künftige Großtaten bis hin zum eventuellen Kriegsabenteuer keine gute Voraussetzung ist. Erst der von inneren Unruhen in Korea ausgelöste Chinesisch-Japanische Krieg lässt Wilhelm II. die angestrebte politische Rolle spielen, die für ein direkteres Engagement in Ostasien spricht. Japans See- und Landstreitkräfte erweisen sich aufgrund ihrer militärischen Ausrüstung dem von seinem Kriegsgott Guan Gong erneut im Stich gelassenen China klar überlegen. Pekings Flotte wird nahezu vollständig vernichtet. Mit dem Friedensvertrag von Shimonoseki muss Peking Taiwan und die Pescadores-Inseln abtreten, die Unabhängigkeit Koreas anerkennen. Den Verlust der strategisch wichtigen Halbinsel Liaotung in der südlichen Mandschurei verhindert eine diplomatische Dreimächte-Mission, womit die Interventionsmacht Deutschland, die dem siegreichen Japan in den Arm gefallen ist, im Reich der aufgehenden Sonne allerdings jeden politischen Kredit verspielt.


Die deutschen Konzessionsbesitzungen in Tientsin

Das China des Kaisers Guang Xu und der einflussreichen Kaiserwitwe Cixi hat sich als Papiertiger erwiesen, für Wilhelm das Abwarten gelohnt. Seine Kolonialplaner haben das sterbende chinesische Kaiserreich als Militärmacht nicht mehr zu fürchten. Obendrein wird er für die Unterstützung der chinesischen Position mit Konzessionen in den Vertragshäfen Wuhan (Hankou) und Tientsin (Tianjin) belohnt.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Als sich Deutschland für Tsingtau interessierte

Obwohl sich die Interventionsmacht verpflichtet hatte, auf Sondervorteile zu verzichten, wird chinesischen Politikern, die an der Spree vorbeischauen, dort verdeutlicht, dass das Reich für seine Haltung in der Liaotung-Frage noch etwas mehr erwarte. Friedrich v. Hollmann, Staatssekretär im Reichsmarineamt, fordert den Flottenstützpunkt an Chinas Küste: »...da der Zustand, der uns zwingt, unsere Kohlen bei anderen zu nehmen und bei Reparaturen fremde Docks anzulaufen, unter Deutschlands Würde ist«. Der Sterbfritzer Frhr. Schenck zu Schweinsberg, jetzt deutscher Gesandter in Peking, schlägt aufgrund der Vorarbeiten des Frhr. v. Richthofen die Erwerbung der Kiautschou-Bucht vor.


Admiral Friedrich v. Hollmann - Er forderte einen deutschen Marinestützpunkt in der Kiautschou-Bucht

Berlin regt beim Tsungli-Yamen, Pekings AA, die freie Abtretung bzw. pachtweise Überlassung eines geeigneten Territoriums für die Kriegsflotte an. Auf die daraus entstehenden Vorteile für das wirtschaftliche Leben und die territoriale Sicherheit Chinas wird ausdrücklich hingewiesen. Peking lehnt ab, was mit der Sorge, dass weitere Staaten mit ähnlichen Wünschen kommen könnten, zu begründen ist. Diplomatie hätte zumindest etwas Zeit gebraucht, die sich Wilhelm allerdings nicht nehmen will. Scharfmacher setzen sich mit dem Vorschlag durch, den sperrigen Mandschu-Hof durch die Besetzung eines Küstenstrichs vor vollendete Tatsachen zu stellen. Für die junge Marine, die den Auftrag zur Vorbereitung einer Besitzergreifung erhält, soll Kapitänleutnant Braun mit dem Kanonenboot I. Klasse Iltis die Eignung des anvisierten Küstenbereichs vom militärischen Standpunkt her überprüfen.


das 1896 gesunkene Kanonenboot "Iltis"



Im Juli 1896 wird Iltis, auf dem Weg zur Kiautschou-Bucht, vor Kap Schantung von einem Taifun überrascht. Von Windstärken um die 200 km gegen Klippen geworfen, zerbricht das Schiff. 79 Seeleute sterben den Seemannstod, elf werden, nachdem sich der Taifun verbrauchte, auf einem Wrackteil auf den Tod oder die Rettung wartend entdeckt. Zur mystischen Verklärung des Iltis-Untergangs führt, dass Überlebende erzählen, die Kameraden hätten, den sicheren Tod vor Augen, das deutsche Flaggenlied »Stolz weht die Fahne Schwarz-Weiß-Rot« angesungen: »Und treibt ein feindliches Geschick/Uns an ein Felsenriff... Ja, mit den Wogen kämpfen noch/Der sterbende Pilot./ In seiner Rechten hält er hoch/die Flagge Schwarz-Weiß-Rot.«

Schwarz-Weiß-Rot, wo anders sollte es wehen als auf Position 36° 04' Nord, 120° 19' Ost: wo anders als an der Kiautschou-Bucht!

Anstelle von Kapitänleutnant Braun reist der Kieler Hafenbauingenieur Georg Franzius mit einer Marineexpedition an. Von dem, was er vorfindet, ist er überzeugt: »Man musste an die, selbstverständlich friedliche, Erwerbung eines unter deutschem Hoheitsrecht stehenden Platzes denken und durfte um so mehr hoffen, hierbei von chinesischer Seite Entgegenkommen zu finden, als ja die Eröffnung eines neuen Hafens, die Herstellung von Eisenbahnen und die Aufschließung von Kohlen- und Eisenlagern nicht etwa nur den Inhabern von Konzessionen, sondern in erster Linie dem chinesischen Reiche selbst von höchstem Nutzen sein wird.«


Georg Franzius

Wieder zu Hause, reicht Franzius seine Erfahrungen an die Marineführung weiter, sodass hinterher alle der gleichen Meinung sind: Die Wassertiefe der Kiautschou-Bucht ist für die Passage tiefgehender Schiffe und nach entsprechender Ausbaggerung zur Anlage eines großen Hafens geeignet. Die Bucht ist ganzjährig eisfrei, mit dem Aufschütten eines Dammes der Schutz vor Stürmen zu garantieren. Wirtschaftlich im jetzigen Zustand noch uninteressant, könnte eine entsprechende Infrastruktur die Provinz Schantung an einen leistungsstarken Hafen anschließen, könnten im geländegünstigen Hinterland reiche Kohlenvorkommen geborgen werden, um damit Handels- und Kriegsschiffe zu versorgen: »Wichtiger noch als die wirtschaftliche Entwicklung Kiautschous ist es, mit Hilfe dieses militärischen Stützpunktes das ganze chinesische Land, das ganze chinesische Volk deutscher Unternehmungslust offen zu halten und weiter nutzbar zu machen.«

Politisch gesehen liegt die Bucht weit genug von den Interessensphären anderer Großmächte entfernt, was darauf hoffen lässt, dass eine Übernahme zu keinen Verwerfungen etwa mit dem Branchenriesen England führt. Auch vom Strategischen her ist Kiautschou absolut keine schlechte Wahl, sind von hier aus Südjapan, Korea oder die Pohaistraße doch in relativ kurzer Zeit zu erreichen. »Bereit sein ist alles«, so Vizeadmiral. Max Frhr. v. d. Goltz, ehemaliger Geschwaderchef in Ostasien ..., was Kaiser und Reich jetzt nur noch fehlt, um das Tor zu China aufzustoßen, ist ein Vorwand, ein konkreter Zwischenfall wie am Abend vor dem katholischen Gedenktag aller Heiligen und Seligen in Lichiachuang im Apostolischen Vikariat Schantung.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Im Opiumrauch

Die nordchinesische Provinz Schantung ist kein gewöhnlicher Platz. Hier liegt der taoistische heilige Berg Taishan, um den sich viele Legenden ranken. Im Staat Lu, dem heutigen Schantung, wurde Meister Kung-fu-tse, der größte aller Chinesen, geboren. Hier lebte und lehrte er. »Der schönste Platz in der Welt ist, wo Gott mich hinschickt« rief Freinademetz aus, auch dann noch, wenn im neuen Sprengel die eigenen Herde klein, die Zahl der Bergdämonen, Wassergeister, Lokalgottheiten und Himmelszeichen dagegen geradezu erdrückend sind. Lediglich in Puoli, das sie zu ihrer frühen Missionszentrale machen, finden Anzer und Freinademetz eine christliche Gemeinde vor. Um so eifriger gehen sie daran, »die Masse der im Aberglauben dahinvegetierenden Verdammten« auf den einzig richtigen Weg zu bringen. In Puoli kommt es zur Einrichtung eines Waisenhauses für Mädchen und Buben und eines Knabenseminars. Handwerkstätten bis hin zur Druckerei werden gebaut. Probleme lassen nicht lange auf sich warten, denn wo immer die Steyler im Schweiße ihres Angesichts das Feld bestellen wollen, kommt es zu Konflikten mit Karl Mays »greisenhaft alter Kultur«.


Josef Freinademetz

Dem Bayer und dem Tiroler, so unendlich weit von den grünen Weiden der Heimat entfernt, ist die aus uralten Lebensquellen gespeiste chinesische Geistesbildung, den Hütern klassischer chinesischer Bildung wiederum das Christliche fremd. Persönliche Entbehrungen, »meine gegenwärtige Wohnung ist die Hütte eines hiesigen Christen, aus Erde gebaut, mit Stroh gedeckt« gab Anzer an - müssen erst einmal überwunden werden. Ungünstig scheint der gewählte Augenblick. Das alte China, vom Gott des Glücks verlassen, ist aus den Begegnungen mit dem Imperialismus immer wieder als Verlierer hervorgegangen.

In den Köpfen der Zopfträger herrscht weiterhin Krieg, wofür es eine ganze Reihe guter Gründe gibt. Die verhängnisvolle Abhängigkeit von Europas Supermächten, die nichts anderes als ihre Wirtschafts-interessen verfolgen, hat zum Verlust von Absatzmärkten für heimische Produkte geführt. Dem Import ausländischer Waren fielen zahlreiche Arbeitsplätze zum Opfer. Dem Dauerverlierer bleibt der uneingeschränkte Handel mit Opium aufgezwungen. Opium, Brei des Glücks und Tod für Chinas Nerven, fließt als unerwünschte Fracht unkontrolliert ins Land. Gegen Einsprüche werden Kanonenboote Ihrer britischen Majestät eingesetzt.

An der Konfliktspirale hat die Suche nach dem »Reich des Großen Friedens« gedreht, ein Aufstand der christlich beeinflussten Taiping-Sekte, deren Führer sich als jüngerer Bruder Jesus sah. Die Zahl der Todesopfer war über 20 Millionen gestiegen, in Peking der Sommerpalast geplündert und abgebrannt. Dazu kommen soziale Geißeln wie Seuchen und Naturkatastrophen. Nicht von ungefähr schieben konfuzianische Gelehrte die Schuld an Chinas Niedergang auf »die fremden Teufel, die den Lauf des Himmels aufzuhalten suchen«. Unter ihnen sehen gerade die »Schwarzröcke« mit ihrer offensiven Missionspolitik nicht gerade vorteilhaft aus. Neben ihnen sind die chinesischen Konvertiten, böswillig Reis- oder Dollar-Christen genannt, vom Zorn der Massen betroffen. Um die Götter gnädig zu stimmen, muss der fremde Einfluss gebrochen werden. Umgehende Reformen oder Revolution: Die Chinesen, die gleichzeitig unter Feudalismus und Imperialismus leiden, haben ein Ziel, sich darüber formende Geheimbünde und patriotische Gesellschaften in der Regel leichtes Spiel.

Freinademetz schreibt in die Heimat zurück: »Die Leute reden allgemein recht gut von unserer heiligen Religion und viele würden sich wohl auf der Stelle für uns erklären, wenn nicht so zahlreiche Hindernisse im Weg lägen. Der eine und vielleicht die Mehrzahl schämt sich, katholisch zu werden. Der andere wird gehindert durch seine Verwandten, ein anderer ist Gewohnheitssünder, z.B. Opiumraucher. ....« An Hindernissen fehlt es tatsächlich nicht, 1895 werden im SVD-Missionsgebiet drei Konvertiten ermordet. Freinademetz, den sie in den Tiroler Bergen gerne »die ehrwürdigste Figur von Alta Badia« nennen, wird in Schantung inzwischen Fu Shenfu genannt: Fu steht für Glück, auf das der von Religionsgegnern immer wieder einmal kräftig durchgeprügelte Tiroler angewiesen bleibt, Shenfu für Priester.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Nies und Henle ermordet - Tsingtau "erobert"

Am Abend vor dem katholischen Gedenktag aller Heiligen und Seligen des Jahres 1897 geht es in der Steyler Missionsstation Li-chia-chuang noch recht unterhaltsam zu. »Wir haben Volkslieder gesungen, es war ein richtig schöner, lustiger Abend. Zum Schluss haben wir noch das Requiem eingeübt.« erzählt P. Georg Stenz Nach dem Vaterunser legt man sich zur Ruhe. Gegen 22 Uhr dringen Angehörige des aus der Gesellschaft der Unverwundbaren hervorgegangenen Geheimbundes der Messer-Sekte Ta Tao Hwei in die Station ein...


Von Chinesen 1897 bestialisch ermordet: Links Richard Henle, rechts Franz Xaver Nies

P. Franz-Xaver Nies und P. Richard Henle schaffen es, aus dem Schlaf gerissen, noch bis zur Wasserstelle, wo sie »bestialisch zugerichtet, regelrecht abgeschlachtet« werden. P. Georg Stenz, der etwas abseits im Pförtnerzimmer gelegen hatte, gelingt die Flucht. Für Nies (Jahrgang 1859) aus Recklinghausen und Henle (Jahrgang 1863) aus Stetten am kalten Markt war das Requiem am Abend das eigene gewesen. Dafür, dass aus dem »requiescat in pace« nichts werden will, können sie nichts. Zwei Morde an unter deutschem Schutz stehenden Gottesknechten sind ein Zwischenfall, der für Wilhelm II. zum Glücksfall wird. Die Kolonialpropaganda macht Nies und Henle zu »Blutzeugen von Kiautschou«, obwohl die Behauptung geografisch recht unscharf ist. »Es musste dem Zufall überlassen bleiben, dass Deutschland sich selbst einen Platz wählte und eine feste Tatsache schuf, mit der die chinesische Regierung sich nachträglich abfinden konnte« bemerkte Wilhelm Schrameier, Chinesenkommissar für Kiautschou.

Freinademetz, der sich vor Ort um Kate-chumen (Taufbewerber) und Katechisten kümmert, telegrafiert dem Mutterhaus »Nies, Henle ermordet«. Im Klosterdorf Steyl hält sich zur Zeit der Mordtaten auch Bischof Anzer auf. Während Bittprozessionen in Deutschland und Österreich noch das »Heiliger Josef, Schutzpatron Chinas, bitte für China« beten, ruft Anzer vehement nach Sühneleistungen, wobei er prominent an den Bau von drei großen Kirchen denkt. Diplomatischen Gepflogenheiten entsprechend, wäre es jetzt Aufgabe von Paris gewesen, als Wächter katholischer Missionen beim Mandschu-Hof vorstellig zu werden. Doch Anzer, der seinen Missionsschutz nationalisierte, eilt trotz zwischenzeitlicher Beruhigung ins kaiserliche Berlin, wo er mit S.M. privatim über die eiserne Faust zum Schutz von Missionar und chinesischer Herde spricht.


Vizeadmiral Otto v. Diederichs


Die SMS Kaiser im Jahr 1887

Vom kraftmeiernden Flottenkaiser erfährt die Welt, dass die Zeit, in der Deutsche draußen ohne Schutz und Schirm dastehen, abgelaufen sei, mit dem Reich ganz generell nicht mehr zu spaßen ist. Kriegsschiffe würden die Sprache sprechen, die auch Zopfträger verstehen. Der Umgang mit »Christenmördern« ist ein Fall für seine Kanonenbootpolitik. Als Vizeadmiral Otto v. Diederichs, nach Tirpitz Chef des Kreuzergeschwaders, den Befehl zur militärisch-maritimen Machtdemonstration - »größte Energie geboten, Zielpunkt Ihrer Fahrt geheim« - erhält, liegt der Plan zur Besetzung der Kiautschou-Bucht längst vor. Noch am gleichen Tag laufen die in Wusung bei Schanghai unter Dampf liegenden Kreuzer 1. und 2. Klasse Kaiser (Flaggschiff) und Prinzess Wilhelm aus. Der Kleine ungeschützte Kreuzer Cormoran gesellt sich dazu.


Die SMS Prinzess Wilhelm


Die SMS Comoran


Die beteiligten deutschen Schiffe vor Tsingtau, auch die SMS Arcona war daran beteiligt
Bundesarchiv


Offiziere des deutschen Landungskorps: Kiautschou ist die einzige überseeische Besitzung, die militärisch erobert wurde, auch wenn dabei kein Schuss gefallen ist.

Am 14. November 1897, einem Sonntag, liegen Kaiser und Prinzess Wilhelm in der Kiautschou-Bucht vor Anker, um die an der Brücke des Fischerdorfes Tsingtau ausgesetzte Landungsabteilung zu decken. Cormoran dümpelt so lange beim Horse-shoe Riff, da es als denkbar erachtet wird, dass chinesische Truppen von irgendwo her ihren Kameraden zu Hilfe kommen. Die völlig überraschte Garnison, 1.700 Mann des Küstenschutzes unter General Chang kao yuan, missversteht das Manöver des Landungskorps (107 Offz und Uffz., 610 Mann unter Führung von KzS Zeye) und stellt, anstatt sich zu wehren, zu dessen Begrüßung eine Ehrenkompanie auf. Vorauszusehen war das tatsächlich nicht. Von Diederichs zum Abzug innerhalb von drei Stunden aufgefordert, packen die Söhne des Drachens ihre Sachen ein und rücken ab. Tsingtau ist somit die einzige überseeische Besitzung des Reiches, die »militärisch erobert« wurde, auch wenn dabei kein einziger Schuss gefallen ist. Gen. Chang bleibt unter deutschem Schutz zurück, muss er doch Reaktionen seiner Vorgesetzten befürchten.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Kiautschou nach der Inbesitznahme

Nach der Inbesitznahme wird den Chinesen vor Ort mit ausgehängter Allerhöchster Kabinettsordre erklärt, warum anstelle eines grünen Drachens auf gelbem Feld jetzt ein schwarzgelber Adler über Tsingtau weht. Kein Gewaltakt, so Vizeadmiral. v. Diederichs unter mächtigen Hurrarufen, sondern zwei Wochen nach der Ermordung von Nies und Henle die Bürgschaft für zu erfüllende Sühneforderungen an die chinesische Regierung. Dazu ein Akt der Notwehr, um im Drachenland lebende deutsche Landsleute zu schützen.


Das Pachtgebiet Kiautschou - Die Bucht könnte alle deutschen Kriegsschiffe dieser Zeit aufnehmen


Die SMS Irene

Mit dem Einlaufen der SMS Arcona und SMS Irene wird die Besetzung auf das 33 km entfernt liegende Kiautschou ausgedehnt - Kiau für Leim, tschou für den Kreis: sprich Kiautschu. Bis zum Eintreffen eines kriegsstarken Seebataillons und Detachments der Matrosenartillerie bleiben Mannschaften des Ostasien-Geschwaders an Land. Die Wucht der Ereignisse hat den Drachenthron überrascht, sein Ruf nach Vergeltung verhallt jedoch ungehört, da sich wegen eines deutschen Landraubs auch unter ansonsten scharf rivalisierenden Mächten keine Koalitionen bilden lassen.


Der in deutscher Schutzhaft befindliche chinesische General und seine Offiziere
Bundesarchiv


Tsingtau im Januar 1898
Bundesarchiv

Ganz im Gegenteil nutzen Großmächte die Gelegenheit, um sich noch einmal selbst zu bereichern. Britannien krallt sich in der Hafenstadt Weihaiwei fest, Russland nimmt Lüshun, was als Port Arthur bekannt wurde. Unerwartete Schwierigkeiten hat Wilhelm II. lediglich mit Cousin Nicky, dem russischen Zar. Dem Herrscher aller Reußen hat der Hohenzoller ein allegorisches Gemälde des Hofmalers Hermann Knackfuß geschickt, auf dem - »Völker Europas wahret Eure heiligsten Güter« - Germania das Abendland vor der »gelben Gefahr« warnt. Knackfuß ist auf simple Verherrlichungen geradezu spezialisiert, der Entwurf stammte vom Kaiser, der nicht nur etwas gegen Chinesen, »die mit ihren Mongolenscharen die Kultur Europas bedrohen«, sondern auch etwas gegen »die jungen, selbstbewussten, nach Taten lechzende Japaner« hat.

Die innerfamiliäre Unstimmigkeit lässt sich nach einigem Vorausgetöse in St. Petersburg auf diplomatischem Weg beilegen. Ein internationales Recht der ersten Ankerung in einer Bucht - irgendeiner Bucht -, auf das sich Zar Nikolaus beruft, gibt es nicht. Die kaiserlich deutsche Marine, ein Wunschbild der 48er Revolution, ist durch die »Erwerbung« mündig geworden, ein deutsches Hongkong im Werden.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Der Chinese als deutscher Untertan


Die Ehrentore von Kiautschou

Heute unvorstellbar, sind Chinesen Anfang des 20. Jahrhunderts Untertanen vieler damaliger Großmächte geworden, darunter auch dem kaiserlichen Deutschland. Das Reich hat sich im Fernen Osten festgesetzt, doch über den neuen Nachbarn liegt in der Regel nur Klischeehaftes vor: »Die Weiber tragen das Haar in kunstvollen Frisuren, die Männer haben den Kopf geschoren bis auf einen langen Zopf, welchen die niederen Klassen während der Arbeit um den Hals winden, aber rückwärts herabhängen lassen.«


Der Landungssteg von Tsingtau


Tsingtau 1897

Ehrliche Seefahrer gegen chinesische Seeräuber, des Kaisers Land des Lächelns von Diebes-, Räuberbanden und anderen Plagen gesäubert, ein Heer von Chinesen von regressiver Mandarinherrschaft befreit! Deutsches Wissen, deutscher Geist. Einrädrige Schubkarren gegen die Eisenbahn, Porzellanbuddhas gegen das Kreuz ... und überall Chinesen, »die die Besetzung des Kiautschougebietes durch das Deutsche Reich bald als ein Glück für ihr Land ansehen werden«, prophezeite Kapitänleutnant Deimling. Besatzer und Besetzte haben allerdings Probleme, die so anderen Mentalitäten zu verstehen: »Bei einem Fußmarsch im Lauschangebirge schienen mich die mir gemächlich auf Eseln entgegentrabenden Schantungfrauen für nicht viel schlauer als ihre Grautierchen zu halten« schreibt der Asienreisende Kurt Boeck. Der Bücherprotz Karl May geht davon aus, dass dem Volk im Reich der Mitte nicht zu trauen ist, nachzulesen im »Kiang-lu«. Ferdinand v. Richthofen hält die Chinesen für ein »recht brauchbares Menschenmaterial, jedenfalls was Charakter und Körperbau anbetrifft, dazu kräftig, ordentlich, fleißig und ausdauernd, das Ideal einer menschlichen Arbeitsmaschine«. Richard Wilhelm, Missionar des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins und Sinologe, ist als christlicher Missionar nach China gekommen, kehrt von dort als konfuzianischer zurück.


Die SMS Deutschland vor Port Arthur ankernd (1898)

In Berlin hat man nun große Pläne. Fürst v. Bülow aus Klein Flottbek bei Altana: »Im kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer und Amboß sein.« Bis es so weit ist, würde man um so kräf-tiger den Hammer schwingen. Das Reich besitzt nur, was es auch schützen kann. Im Kreis derer, die unter Geschützdonner und brausenden Hurrarufen zur Stationierung in Ostasien aus dem Kieler Hafen in die Förde dampfen, ist Konteradmiral Prinz Heinrich v. Preußen, der Bruder des Kaisers. An Bord des Panzerkreuzers Deutschland befindet sich auch Erich Raeder aus Wandsbek, der spätere Großadmiral des Dritten Reiches. Im Januar 1898 treffen das in Cuxhaven neu aufgestellte III. See-Bataillon und die Matrosenartillerie, in Zukunft die Tsingtauer in der Kiautschou-Bucht ein, wo sie vorerst in zusammengeflickten Lehmwerken der ehemaligen chinesischen Garnison untergebracht werden.


Prinz Heinrich von Preußen

Ein Tsingtauer hat laut Vorschrift tropentauglich, scharfsichtig, kräftig gebaut und mindestens 1,65 m groß zu sein. Nur die Fittesten werden genommen, wer kommt, kommt als Freiwilliger. Die Soldaten bleiben in der Regel zwei Jahre. Auf das Einlaufen des Ablösungsdampfers jeweils im Februar wartet das Gros dann mit Ungeduld. Die Tage, an denen die Neuen kommen, die Alten leise Servus sagen, sind Höhepunkte im frühen Jahreslauf. Unter den Tsingtauern finden sich allerdings immer auch welche, denen es hier ganz gut gefällt, die sich nach Ablauf ihrer Dienstzeit eine Zukunft in Deutsch-China versprechen. Offiziell wird die Reichskriegsflagge am 21. Februar 1898 aufgezogen. Vizeadmiral v. Diederichs »Ich, der Chef des Kreuzergeschwaders« in großer Uniform, nimmt noch einmal die Gelegenheit wahr, um einem Soldatenspalier die Mär von der Kiautschou-Bucht und den vom Gelben Meer umspülten Inseln als Bürgen für die Erfüllung von Sühneforderungen zu erzählen. Zur Feldmesse treten Protestanten und Katholiken gemeinsam an. Zum Abschluss in einem der entlegensten Winkel der deutschen Geschichte das »Großer Gott wir loben dich« der Militärkapelle.


1903 kommt Truppel als Gouverneur nach Tsingtau

Den Befehl über die Besatzungstruppen erhält Oskar Truppel, Artillerieinstrukteur und Lehrer an der Marineakademie. Für den Übergang wird im notdürftig renovierten Yamen des Gen. Chang ein Hauptquartier eingerichtet.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Der Pachtvertrag über Kiautschou


Edmund Freiherr von Heyking

Im März 1898 versucht Edmund Frhr. v. Heyking, Gesandter in Peking, »mit großer Festigkeit« ein Vertragswerk durchzuboxen, das nach offizieller Lesart »die freundschaftlichen Beziehungen zwischen China und Deutschland kräftigen und zugleich die militärische Bereitschaft Chinas stärken« soll. Geld und Kriegsschiffe sind die Sprache, die die Chinesen verstehen (v. Heyking), das schwache China hat keine andere Wahl, als »den berechtigten Wunsch des Kaisers nach einem Platz an der chinesischen Küste« zu erfüllen. Das Abkommen gilt in Europa schnell als ein Meisterstück deutscher Diplomatie, ist für Peking aufgrund unnötiger Härten jedoch eine einzige Demütigung. Die beiden hohen Kontrahenten einigten sich: Der Kaiser von China überlässt dem Kaiser der Deutschen die seiner Regierung zustehenden Hoheitsrechte über zwei Landzungen auf beiden Seiten des Eingangs zur Bucht von Kiautschou, dazu die Wasserfläche der Bucht bis zum derzeitigen höchsten Wasserstand. Zur endgültigen Feststellung der Hochwassergrenze, wie sie im Wattland für die Salzgewinnung aus Meerwasser wichtig ist, würde es allerdings noch bis 1911, dem Jahr des Schweines, dauern.

»Um die Würde Chinas zu wahren«, kommen die beiden Kaiserreiche überein, dass das Land- und Seeareal lediglich pachtweise auf die Dauer von vorläufig 99 Jahren - also bis knapp zum Jahrtausendwechsel übernommen wird. Die »Erwerbung« steht damit Völker- sowie staatsrechtlich auf gleicher Stufe wie die übrigen Schutzgebiete, bleibt formal jedoch dem Mandschu-Hof unterstellt. Um Konflikten vorzubeugen, erkennt China eine 50 km breite neutrale Zone rings um das Pachtgebiet an. Der Landstreifen ist deutsches Einflussgebiet, in dem sich der Pächter frei bewegen, Gottes Mission unter weltlichen Schutz stellen, oder Wasserläufe regulieren kann. Ohne die Zustimmung der neuen dürfen die alten Herren hier keine eigenen Maßnahmen mehr ergreifen oder Anordnungen geben, gerade auch auf militärischem Gebiet. Der Vertrag sichert dem Reich zusätzlich einen 30 Kilometer breiten, 400 km langen Korridor für Bergwerks- und Eisenbahnkonzessionen zu. Die Provinz Schantung verpflichtet sich, bei Bedarf an Kapital, Material und fremden Experten deutschen Angeboten »Prioritätsrechte« einzuräumen.


Ankunft der ersten deutschen Lok im Pachtgebiet

Chinesen bleiben während des Aufenthalts im Pachtgebiet chinesische Staatsbürger, haben jedoch »vorausgesetzt, dass sie sich den Gesetzen und der Ordnung entsprechend verhalten« Anspruch auf deutschen Schutz, unterstehen deutscher Gerichtsbarkeit. Sollte die »Erwerbung« zu irgendeinem Zeitpunkt deutschen Erwartungen nicht mehr entsprechen, verpflichtet sich Peking, Berlin alle vor Ort gemachten Aufwendungen zu ersetzen und im Tausch ein besser geeignetes Gebiet abzutreten.

Der Pachtvertrag wird noch im März 1898 ratifiziert, wogegen selbst ein so entschiedener Kolonialgegner wie August Bebel im Prinzip wenig einzuwenden hat. Der Mord an Nies und Henle wird mit einer Summe von 600.000 Mark gesühnt, die beim Bau von Kirchen und Missionen Verwendung finden.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Stadt und Festung Tsingtau

Deutsch-China bekam deutsche Bezeichnungen verpasst: »Nähert man sich der Kolonie von See her, so grüßen zur Rechten schon von weitem die einer Tiroler Dolomitenkette vergleichbaren, nackten, zackigen Gipfel des Lauschan, die im Lauting bis zur Brockenhöhe ansteigen und dicht bis an das Meer herangehen. Es folgen der Kaiserstuhl, die Prinz-Heinrich- und schließlich in nächster Nähe Tsingtaus die jetzt grün bewaldeten Iltisberge. Auf der gegenüberliegenden Seite wird der Eingang zur Bucht unmittelbar am Kap Jaeschke beginnend von den Haihsibergen flankiert, denen sich das 800 m hohe imposante Perlgebirge anschließt«. Karl May sieht es so: »Ein halbmondförmiger Busen, von dessen beiden Enden an das Land sich sanft, aber höher und höher erhebt«. Tatsächlich wird die Kiautschou-Bucht gerne mit dem Jadebusen zwischen Weser- und Emsmündung verglichen.


Das waldarme Tsingtau 1904

»Die Bäume spielen im Landschaftsbild eine verhältnismäßig bescheidene Rolle. Weidenbüsche in den breiten sandigen Flussbetten, Gruppen von Kiefern an den Begräbnisstellen angesehener Leute, einige oft mächtige Eschen oder Rüstern in den Dorfeingängen und kümmerliches Bambusgebüsch um Tempel und Klöster. Wald im deutschen Sinne gab es vor der Besitzergreifung nicht«. Die Kiautschou-Bucht selbst ist ein weites, natürliches Hafenbecken. An der Innenbucht liegen Dschunkenhäfen wie Tapautau. Als die Deutschen kommen, ist das Pachtgebiet, kaum größer als Hamburg und an seiner schmälsten Stelle gerade ein paar 100 Meter breit, auf den ersten Blick sicher nicht das ganz große Los. Die Hafenkolonie besteht aus ein paar vom Bodenwasser verseuchten Wohnstätten und vier mit Lehmwällen geschützten Truppenlagern. Im Umland rund 300 verschmutzte Dörfer, die den Landstrich zu einer höchst ungesunden Gegend machen. Für die Gesundheit von Europäern besonders gefährlich ist der lokale Brauch der Darmentleerung »überall, selbst auf offener Straße«, was speziell bei Regengüssen der Regenzeit durch Verunreinigung des Grundwassers schnell zum Ausbruch einer Typhusepidemie führen kann. Nennenswerte Bodenschätze fehlen.

Chinesen dazu, wohin man auch schaut, Chinesen, die in räumlicher Enge absolut jeden Flecken nutzen. Die Bevölkerungsdichte übersteigt jene des Reiches, was eine Ansiedlung deutscher Kolonisten von vornherein illusorisch macht. Schantung-Chinesen sind »von großem, kräftigem Wuchs, stark, zäh, langsam und gutmütig ..., ein ganz anderer Menschenschlag als die kleinen, beweglichen, geriebenen Südchinesen« schreibt Hans Wirtz aus Mühlheim am Rhein, Dozent an der Hochschule in Tsingtau. Im Bereich der Bucht leben sie vorwiegend als Klein- und Kleinstbauern, von Fischfang, Kleinhandel und Hausindustrie, eine Hand voll von der Salzsiederei.


Ausbildung der deutschen Chinesenkompanie (1910)

Mit dem Vertragsabschluss gehen die Deutschen, die vor Ort schnelle Fortschritte brauchen, um die künftige Unabhängigkeit und Rentabilität zu sichern, jetzt vor, wie Deutsche vorgehen, die einen Landstrich in Besitz nehmen, von dem sie sich nie mehr trennen wollen. Das Kreuzergeschwader, als mobiler Eingreifverband ein scharfes Kriegsinstrument, kann vor Übergriffen von der Seeseite her schützen. An Land wird, nachdem sich die acht Mann starke Europäerpolizei nicht bewährte, eine Chinesenkompanie aufgestellt. Die Landessöhne erweisen sich unter Führung deutscher Offiziere als überaus zäh und geschickt (»Haltung frisch und tadellos«). Gut gehen kann es trotzdem nicht, da ein Großteil schon während der Boxerunruhen desertiert. Diejenigen, die zur Fahne hielten, bilden dann den Grundstock für die Chinesenpolizei, eine Einrichtung der Zivilverwaltung, die sich schnell »als unentbehrlich« erweist. Wohin die Polizisten gehören, zeigt das in landestypische Strohhüte eingeflochtene Schwarz-Weiß-Rot, später die Kokarde am Turban.

Noch bevor man sich darüber einigen kann, wie die Erwerbung überhaupt heißen soll - Versionen wie Tsintai, Tsintan, Tsintau existieren, Tsingtau ist eine »grüne Insel« in einer gleichnamigen Bucht, liegen Pläne zur Anlage eines modern ausgestatteten Hafens, einer militärisch gesicherten Reißbrettstadt und einer Verbindung ins Hinterland vor. Für Land- und Seekarten wird die Gegend gründlich vermessen. Vom provisorischen Anseglungsfeuer auf der Insel Tscha lien tau zur Tollwutstation, von den Richtlinien für die Raumhöhe der Wohnzimmer über die Dampfwaschanstalt zur modernen Trink-und Abwasserversorgung und Opium-Verbrauchsabgabe ist alles geplant. Aus Deutschland treffen kaiserliche Beamten, Architekten, Ingenieure und Facharbeiter ein, dazu Maschinen, Werkzeug, Laboratorien und sogenannte Tropenhäuser. Bereits im ersten Jahr nach der Besitzergreifung gibt es eine deutsche Schule. 1899 wird nach Gründung der Schantung-Bergbau- und der Schantung-Eisenbahn-Gesell-schaft mit dem Bau der Eisenbahnlinie Tsingtau - Kiautschou begonnen, die die Verbindung zu den Kohlenfeldern und Seidendistrikten herstellen soll. Im Dezember 1901 erreicht die Trasse Tschang ling (km 128), im Juni 1902 das Kohlenrevier von Weihsien (183 km), 1904, im Jahr des Drachens, erreicht sie die Provinzhauptstadt Tsinan (=Jinan).

Die Suche nach dem geeigneten Platz für die Anlage einer Haupt- und Hafenstadt aus grüner Wurzel führt zur Südwestspitze der östlichen Halbinsel, wofür klimatische Überlegungen den Ausschlag geben. Die Berghänge im Norden bieten hinreichend Schutz gegen den Wintersturm, die Lage am Gelben Meer sorgt für die frische Brise im Sommer. Dazu ist der geplante Hafen nicht weit. Tsingtau, Deutschlands einzige Stadtgründung in Asien, entsteht ohne räumliche Anbietung an eine existierende chinesische Stadt. Richtig grün sind die Wurzeln allerdings nicht, da neun Dörfer, darunter das alte Fischerdorf Tsingtau, dem Stadtbau weichen müssen. Was vom Namenspatron dann übrig bleibt, sind eine Tempelanlage der Schutzgöttin Tien-hou und der Yamen, der zur Kaiserlichen Postanstalt wurde. Eigentümer von Grundstücken erhalten Entschädigungen, die sich an jenen beim Aufbau der chinesischen Garnison des Gen. Chang orientieren. Eine moderne Landordnung verhindert Grundstücksspekulationen, was dem geregelten Aufbau und einer nach Funktionen gegliederten Raumstruktur entgegenkommt.


Tsingtaus Chinesenviertel

Der Bebauungsplan sieht mit dem Europäer-, Geschäfts- und Chinesenviertel drei klar zu unterscheidende Stadtteile vor. Der Ausbruch einer Seuche erzwingt den Abriss weiterer chinesischer Dörfer in der Nähe der Reißbrettstadt. An der Auguste-Viktoria-Bucht entsteht die Europäerstadt, in der Chinesen Land kaufen und vermieten, aber vorerst nicht wohnen dürfen. Eine ganz strikte Rassentrennung würde allerdings nicht einzuhalten sein, ist doch abzusehen, dass Deutsche in China nur ungern auf Amah (Hausmädchen), Hausdiener und Koch verzichten. Das ausradierte Dorf Tsingtau an der Tsingtau-Bucht wird durch die Geschäftsstadt ersetzt. Nordwestlich der Geschäftsstadt, zur Kiautschou-Bucht hin, wird das bereits bestehende Dorf Tapautau zur Chinesenstadt mit Handwerker- und Händlervierteln ausgebaut. Hier können sich auch Nichtchinesen niederlassen.

Gebaut wird, wie man in Deutschland nach der Preußischen Bauordnung baut, wenn auch mit kolonialen Elementen und Anleihen aus der chinesischen Architektur. Gebaut wird weitgehend klimagerecht. Der Bauboom lässt sich kaum übertreffen: Die Iltiskaserne, das große Lazarett und Hotel Prinz Heinrich (ab 1899), das Europäergefängnis und Bahnhofsgebäude (1900), das Seemannshaus (1901), Gouver-nementsgebäude und Bismarckkaserne (1903), die Polizeistation (1904), das Wohnhaus des Gouverneurs (1905)... Um Wohnraum für die vom Bauboom angezogenen Chinesen zu schaffen, werden in einiger Entfernung die Arbeitersiedlungen Tai-tungtschen und Taihsitschen angelegt.


Der Elitestrand an der Auguste-Viktoria-Bucht mit Strandhotel und Kasernen im Hintergrund.

In Tsingtau bleibt die Rassentrennung aus kolonialhygienischer Sicht in den ersten Jahren erhalten, sehen die Deutschen - die überfüllten Zentren Hongkong oder Singapur als warnende Beispiele vor Augen - im zu engen Zusammenleben doch die Seuchen- und Ansteckungsgefahr. Erst der Sturz der Mandschu-Dynastie, der vornehmen Mandschu-Adel und wohlhabende Sympathisanten der Monarchie in die Exterritorialität des Schutzgebietes spült, sollte auch das Europäerviertel multikulturell aufmischen. Gewisse Spielarten der Apartheid werden auch in den eigenen Reihen gepflegt: Zivilisten wie die Regierungsbaumeister Mahlke und Stoessel, der Bankdirekter Schmidt-Decarli und der Mathematiker Konrad Knopp, Oberlandmesser Goedecke oder Oberlehrer Lessing dürfen sich am Elitestrand der Auguste-Viktoria-Bucht in die Fluten stürzen. Dort können sie auf Offiziere wie Oblt. zur See Hoffmann-Lamatsch Edler v. Waffenstein, Oblt. zur See Hellmann (ILTIS), Marine-Oberzahlmeister Dittmers treffen. Der gemeine Seesoldat pilgert zum Baden zur Iltisbucht.

Nur fünf Jahre würde es dauern, bis Gouverneur Truppel - den der Kaiser beim Eintritt in den Ruhestand adelt - und Konteradmiral Henning v. Holtzendorff die Anlegemole 1 im Großen Hafen von Tsingtau dem Verkehr übergeben. Mit einer Wassertiefe von neuneinhalb Metern wird die Anlage selbst tiefgehenden Schiffen gerecht. Ein 4.550 m langer Umschließungsdamm schützt vor starken Nordwestwinden.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Vor dem Boxeraufstand


Deutsche Marinesoldaten im Pachtgebiet

Von Anfang ist es das Ziel Berlins, deutsche Kultur nach China zu bringen. Die Hauptarbeit fällt vorerst den drei deutschen Missionsgesellschaften zu, neben den Steylern die Berliner Gesellschaft zur Beförderung der evangelischen Mission unter den Heiden und der in Weimar gegründete Allgemeine Evangelisch-Protestantische Missionsverein (Ostasienmission). Die Missionen richten nach und nach 60 Elementarschulen für Chinesen ein, sind karitativ an Kranken tätig. Die praktischen Steyler unterhalten eine Lehranstalt, die chinesische Christen eigens auf die Anstellung bei der Eisenbahn vorbereitet. Der »Frauenverein für christliche Bildung des weiblichen Geschlechts im Morgenland«, jetzt: Morgenländische Frauenmission) richtet eine Lehranstalt für Mädchen ein, was die Reichsregierung jeweils mit Landschenkungen belohnt. Für Schule, Seelenheil und Gesundheitswesen treffen Berliner Missionare wie Voskamp und Kunze ein. Namhafte Vertreter der Ostasienmission sind der Missionar, Forscher und Sinologe Ernst Faber aus Coburg und dessen Nachfolger Richard Wilhelm aus Stuttgart. Über den »Heiden« werden die Christen nicht vergessen: Der Seelsorge dient das vom evangelischen Marine-Oberpfarrer Winter angeregte christliche Soldatenheim am Tsingtauer Observationshügel.


Parade deutscher Soldaten in Tsingtau

Bis hierher hatte die Übernahme des Pachtgebiets keine größeren Reibereien provoziert. Zu ernsten Turbulenzen führt erst der Bau der Eisenbahn, die Einheimischen wie Teufelswerk vorkommt. Die Trasse führt durch Schantungs fruchtbarste Gegenden, ihre Dämme blockieren die Bewässerungsanlagen der Bauern. Die Bauarbeiten fordern zahlreiche Menschenleben, besonders durch ansteckende Krankheiten wie Typhus und Cholera, stören in einer Kultur, in der Ahnenverehrung das größte aller Gebote ist, die Gräber, damit die Ruhe der teuren Verstorbenen. Die Fremden, die zeitweise bis zu 25.000 chinesische Wanderarbeiter beschäftigen, zahlen schlecht, nehmen keine Rücksichten. Entlang der Trasse zur Befriedung stationierte Patrouillen schlagen jeden Widerstand nieder. Sabotageakte fordern die üblichen Formen kolonialer Unterdrückung heraus.

1898 wird der Matrose Schulz, während er auf Posten steht, heimtückisch ermordet, bei der Hinrichtung des feigen Mörders sind Deputationen aller Truppenteile dabei. Dem Überfall auf einen Geldtransport folgt der Anschlag auf ein Pulverlager. Das Chinesengefängnis in Litsung ist überfüllt. Im Juni 1899 marschiert Hauptmann Mauve mit Marineinfanteristen und Kavalleristen im Kreis Kaumi (Goami) ein. Kaumi liegt außerhalb des Pachtgebiets, doch innerhalb der 50-Kilometer-Zone. Mauves massive Strafaktionen kosten zahlreichen Dörflern das Leben. Nicht von ungefähr ist es das Hinterland des deutschen Pachtgebiets, in dem sich die Bewegung der Yihetuan oder Boxer bildet.

1898/99 hat es in Schantung nur wenig geregnet, wofür man einmal mehr die Missionare, die Fremden ganz generell verantwortlich macht. Im ausbleibenden Regen wird einer der Gründe gesehen, die zum sogenannten Boxeraufstand führen. Boxer sind fast ausnahmslos Bauernburschen, die die Tradition des Faustkampfes pflegen, sich durch weiße Kopftücher von der Masse abheben. Wären 1898/99 keine trockenen Jahre gewesen, hätten sich die Bauern wahrscheinlich zuerst auf ihre Ernten anstatt auf die Fremden konzentriert...

Der Himmlische auf dem Drachenthron hatte seinen göttlichen Status eingebüßt, die Rebellion der »Faustkämpfer für Gerechtigkeit und Harmonie« gilt ursprünglich eher dem korrupten Mandschu-Regime. Erst auf die geschickte Intervention der Kaiser-Witwe Cixi schlägt die anti-mandschurische Stimmung in einen tödlichen Hass auf alles Fremde um, worauf sich das »Friede für China, Tod den Mandschus« wie ein prodynastisches »Friede den Mandschus, Tod den Fremden« anhört. China erklärt Europas Mächten den Krieg.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Der Aufstand bricht los

Chinesische Christen werden reihenweise abgeschlachtet »Frauen und Kinder in Stücke gehackt, Männern Nasen und Ohren abgehauen und die Augen ausgestochen«, christliche Schulen und Kirchen zerstört. Dazu Eisenbahnlinien unterbrochen, Brücken demoliert und Telegrafenleitungen gekappt. Im Mai tauchen Boxereinheiten vor Peking auf.


Deutsche Marinesoldaten marschieren in den Kampf gegen Chinas Aufständische, die vom regulärem chinesischen Heer unterstützt wurden

Was in Peking passiert, irritiert auch in Schantung, wo es von Drohungen und handfesten Andeutungen nur so wimmelt. In der deutschen Einflusszone nutzen militärisch organisierte Banden die Zeit zu bösen Exzessen, worauf sich die Verwaltung gezwungen sieht, Missionare, Bergwerks- und Bahnbeamten nach Tsingtau zurückzurufen. Die Stadtbefestigungen werden durch die sogenannte Boxerstellung verstärkt. Deutschland verfügt in der Region über die in Tsingtau stationierten Truppen und das Kreuzergeschwader unter Konteradmiral Otto Felix v. Bendemann: Die Großen Kreuzer SMS Hertha (Flaggschiff), SMS Kaiserin Augusta, SMS Hansa, die Kleinen Kreuzer SMS Irene und SMS Gefion und das Kanonenboot Iltis (II) ein Kanonenboot, das hochseetüchtig, dazu in der Lage ist, auf Chinas großen Flüssen zu fahren.


Die SMS Hertha (1909)

Als erste Maßnahme wird ein Kontingent des III. See-Btl. (6 Offz./Uffz., 45 Seesoldaten) zum Schutz des international verwalteten Gesandtschaftsviertels beim Tor des himmlischen Friedens von Tsingtau nach Peking verlegt. Zwei Kompanien des See-Btl., vom dortigen Konsul zum Schutz der deutschen Niederlassungen gebeten, marschieren unter Oberleutnant v. Soden in Tientsin ein. Das Kreuzergeschwader verlässt Tsingtau mit Kurs auf die Taku-Reede.


Guido von Usedom

Anfang Juni nehmen die Landungskorps des Kreuzergeschwaders unter Kapitän zur See Guido v. Usedom am Marsch des internationalen Seymourschen Expeditionskorps teil, das Peking entsetzen soll. Seymours Truppe trifft auf unerwartete Schwierigkeiten, dann auch auf kräftige Gegenwehr. Es fehlt so ziemlich an allem, besonders an Trinkwasser und Munition. Als Konteradmiral Seymour während eines Angriffs auf Fort Hsiku das berühmte »Germans to the front« befiehlt, wird aller Welt vorgeführt, dass (nur) Deutsche angreifen und siegen können. Die Kompanien von SMS Hertha unter Kapitanleutnant Hecht und SMS Hansa Kapitänleutnant Schlieper führen die Marschkolonne an. Auf deutscher Seite fallen 17 Mann, darunter Kapitän zur See Buchholtz von der SMS Kaiserin Augusta, 62 werden verwundet.


Die SMS Iltis und ihre Besatzung

Das Expeditionkorps steckt vorerst in Fort Hsiku fest, zum Entsatz rücken europäische Truppen aus Tientsin an, darunter eine Kompanie Tsingtauer unter Hauptmann v. Knobelsdorff.
Im Juni geht Kanonenboot Iltis unter Kapitänleutnant Wilhelm Lans mit englischen, russischen und japanischen Alliierten gegen die von Boxern und regulären Truppen verteidigten Taku-Forts vor, die die Zufahrt vom Meer nach Tientsin und die Eisenbahnverbindung nach Peking bewachen. Der Preis ist auch für eine Gesellschaft, in der der Soldatentod der schönste ist, relativ hoch: Die ungepanzerte Iltis erhält Treffer auf Treffer, die Mannschaft hat 7 ehrenvoll Gefallene und 11 Verwundete. Das deutsche Kanonenboot darf hinterher den Orden Pour le Merite als Bugverzierung tragen.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Das Ostasiatische Korps und das Ende des Boxerkrieges

Am 20. Juni 1900 wird der deutsche Geschäftsträger Klemens Frhr. v. Ketteier von einem Mandschu-Soldaten ermordet, worauf die Heimat mit einem national-patriotischen Aufschrei reagiert. Alles schreit, Wilhelm II., wie es seine Art ist, am lautesten. China habe »der Heiligkeit der Gesandten, der Heiligkeit des Gastrechts in abscheulicher Weise Hohn gesprochen«, das »tausendjährige alte Völkerrecht« umgeworfen und die deutsche Flagge beleidigt. »Pekings feiger Überfall, Sühne deutscher Feldmarschall«


Das Ostasiatische Korps bei seiner Verabschiedung durch Kaiser Wilhelm II. Seine "Hunnenrede" erlebte später in der alliierten Kriegspropaganda im 1. Weltkrieg eine böse Wiederauferstehung

Wie der Mord an Nies und Henle die Chance zur Besetzung der Kiautschou-Bucht gab, sieht der oberste Kriegsherr jetzt die Gelegenheit, vor aller Welt zu beweisen, dass das Reich auch fern der Heimat geradezu vernichtende militärische Schläge führen kann. Die Ernennung des Generalfeldmarschalls Alfred Graf v. Waldersee zum Oberbefehlshaber des europäischen Expeditionskorps muss die neue Machtposition in China demonstrieren, des Reiches Stellung in Ostasien festigen. Der Bur, der sein Land gegen die Engländer verteidigt, ist ein Held, der Chinese, der das gleiche tut, ein Barbar.

Wilhelms schreckliche Hunnenrede bei der Verabschiedung des Ostasiatischen Korps am 27. Juli 1900 in Bremerhaven würde den Deutschen im angelsächsischen Raum den nom de guerre Huns/Hunnen einbringen: »Bewährt die alte preußische Tüchtigkeit, zeigt Euch als Christen im freudigen Ertragen von Leiden, möge Ehre und Ruhm Euren Fahnen und Waffen folgen ... Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe erschlagen! Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! Wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf 1.000 Jahre durch Euch in einer Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen nur scheel anzusehen!«


Generalfeldmarschall Alfred Graf v. Waldersee bei seiner Abfahrt in Berlin

Zum Leidwesen seines Kaisers trifft das deutsche Expeditionskorps - mit 20.000 Mann das größte Kontingent der »Acht Alliierten« - am Ort des Geschehens mit Verspätung ein. Alliierte Truppen haben sich bereits nach Peking durchgekämpft. An kleineren Straffeldzügen kann man sich noch beteiligen, 75 werden es immerhin. Des Kaisers Hunnenrede als Losung muss das in Europa in Ansätzen formulierte Völkerrecht auf der Strecke bleiben. Deutsche Soldaten »Pardon wird nicht gegeben: Wir haben Treue geschworen und wir müssen den Eid halten!«, erinnern sich in Kriegsaufzeichnungen so mancher »kampfesheißer Tage«: »Wie der Wind jagten wir, Graf Soden allen voran, nach dem Aufstieg, und in wenigen Minuten waren wir an die vordersten Chinesen heran und stachen sie über den Haufen. Gleich daraufkamen auch die Italiener und die Franzosen im Laufschritt angerückt, sie nahmen den östlichen, wir den westlichen Feind vor.« Ein Unterschied zwischen Boxern und Nichtboxern wird nicht mehr gemacht: »Wir haben alles niedergemetzelt, was uns in die Finger kam, weder Weib noch Kind verschont.« - »Die gefangenen Chinesen haben wir alle totgeschossen, aber auch alle, die wir sahen und kriegten, haben wir niedergestochen und -geschossen.«


deutsche Soldaten während einer Kampfpause im Boxeraufstand

Waldersee, inzwischen scherzhaft so genannter »Weltmarschall«, fragt sein Tagebuch: »Was soll ein Befehlshaber tun, wenn er sieht, wie ringsum Soldaten jeder Nationalität rauben und plündern unter Zustimmung ihrer Offiziere, wenn diese sogar das Beste für sich vorweg nehmen. Seit dem Dreißigjährigen Kriege und den Raubzügen Ludwigs XIV. in Deutschland ist ähnliches an Verwüstungen nicht vorgekommen.«


Eine deutsche Stellung im Boxerkrieg

Kettelers Mörder wird in Gegenwart der Generäle Trotha und Lessei in der Kettelerstraße hingerichtet. Pekings Kettelerdenkmal trägt die Aufschrift »Die Gerechtigkeit siegt«. Für jene, die in China dabei waren, stiftet Kaiser Wilhelm eine von ihm selbst entworfene Gedenkmünze, die einen Adler zeigt, der einen Drachen in den Fängen hält. Im Pachtgebiet halten die Unruhen an, was Gouverneur Jäschke und Graf Waldersee zu Strafaktionen zwingt. Nach Übergriffen auf Bergwerksingenieure bei Weihsien am nördlichen Abhang der Schantungberge, Angriffen auf Patrouillen und Sabotageakten an der Eisenbahn wird ein größeres Detachement nach Kiautschou verlegt. Um »Ruhestörungen im Keime zu ersticken«, marschiert Hauptmann Conradi und 200 Mann im Kreis Kaumi ein. Die Soldaten kartätschen »von Boxern und Räubern besetzte Dörfer« zusammen, was als »durchgehend gerechte Behandlung« nach Berlin gemeldet wird.

Mit dem Norddeutschen-Lloyd-Dampfer Bayern reist die durch das Internationale Boxerprotokoll zum Kniefall gezwungene chinesische Sühnegesandtschaft in Deutschland an. Mit an Bord ist Prinz Chun L, der Bruder des regierenden Kaisers. Der Boxeraufstand hatte Amerikaner, Engländer, Russen, Italiener, Österreicher, Deutsche, Franzosen und Japaner zusammengeführt.


Die SMS Iltis nach dem Boxerkrieg mit dem Pour le Merite am Bug

Eine echte Zeitenwende markiert jedoch der Russisch-Japanische Krieg von 1904/05. Die Söhne Nippons besiegen die Fernost-, dann auch die baltische Kriegsflotte des Gegners. In der Mandschurei können sie die Truppen des großen Zarenreichs demütigen. Das mit den Beutegeschützen der Taku-Forts verstärkt armierte Pachtgebiet wird vom Kriegsgeschehen nur insofern betroffen, dass japanische Schiffe nordchinesische Gewässer meiden, ein beschädigtes russisches Linienschiff und ein paar Torpedoboote Tsingtau anlaufen. Um die 100 Russen finden Aufnahme im großen Lazarett. Japan, das die Chinesen tief unter sich vermutet, war bei den Europäern, gerade auch bei einem deutschen Generalstabsoffizier in die Schule gegangen. Sein Sieg über den Militärhochmut Petersburgs beweist, dass es mit der abendländischen Überlegenheit allmählich zu Ende geht, auch traditionelle Großmächte zu schlagen sind.

Primärquelle: Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Tsingtaus Infrastruktur


Tsingtaus Gouverneurshaus (Bundesarchiv)

Tsingtau, die Stadt »aus dem Nichts«, wie Rom auf sieben Hügeln gebaut. Tsingtau, Haupt-, Handels-, Hafen- und Garnisonsstadt, Flottenstütz- und Kulturmittelpunkt am Osteingang der Kiautschou-Bucht: eine kräftige Prise Deutschland mit Blick aufs Gelbe Meer, des Vogelmeisters Günther Plüschows Paradies auf Erden. Baumbestandene, schachbrettartig angelegte Straßen und gartenartig behandelte Flächen. Rote Ziegeldächer, kaisergelbe Fassaden, Gebäude mit unverkennbar wilhelminischen Zügen, dazu an den Fenstern der Heimat weiße Gardinen.


Die Friedrichstraße

Die Villen der Europäer liegen zur Seeseite hin, Hotels und Handelshäuser entlang der Ufer-, die meisten Geschäfte in der Friedrichstraße. Das Hotel Prinz Heinrich dominiert die Strandpromenade, als Badeplatz gibt es nichts Schöneres als die Auguste-Viktoria-Bucht. Über der Stadt das repräsentative Gouvernementsgebäude, das schon durch seine Erhöhung manifestiert, wer im Landstrich jetzt das Sagen hat. Vom »kirchenähnlichen« Bahnhofsgebäude in der Geschäftsstadt ist des Kaisers Berlin in gerade mal 13 bis 15 Tagen zu erreichen.


die deutsche Chinesenpolizei als "Korporalschaft Geiger"


Tsingtau wurde schwer befestigt, hier ein Geschütztransport im Jahr 1904 (Bundesarchiv)

Klein-Deutschland über See ist in seinem Kern weitläufig germanisiert, wer die Karten von Stadt und Land studiert, kann sich an einem Diederichs-, Signal-, Moltke-, Bismarck- oder Iltis-Berg orientieren, an der Irene-Baute, am Herzogin-Elisabeth-Tal und an einem Kaiser-Wilhelm-Ufer. Aus Mant tsching tau ist Hafeninsel, aus der Berggruppe Wu schan ein Kaiserstuhl geworden. In der Außenreede liegt die Arconainsel, vor der Innenreede ein Hufeisenriff. Im Tempelpass des Lauschangebirges steht, von der Wohlfahrtslotterie finanziert, das Genesungsheim Mecklenburg-Haus. Eine Küstenstelle trägt mit Meeresfrieden einen urdeutschen Namen. Wahrzeichen der Stadt ist neben dem Hundertfünzigtonnenkran des Hafens die am Ostersonntag 1910 in malerischer Lage östlich der Bismarckstraße geweihte Christuskirche der evangelischen Zivilgemeinde. Architekt des Gotteshauses, das Schwesterkirchen in Windhuk in Deutsch-Südwest und Daressalam in Deutsch-Ostafrika hat, war Curt Rothkegel, Bauherr der Deutsche Evangelische Kirchenausschuss Berlin.


Tsingtaus Gouverneurssitz

Im Pachtgebiet arbeiten 73 europäische Unternehmen, Firmen wie Schwarzkopf, Wieler, Karberg, Carlowitz, Siemssen (alle & Co.). Nahezu jede größere deutsche Bank und Gesellschaft mit Chinaengagement ist mit einer Filiale vertreten. Dazu kommen chinesische Unternehmen, die die Stadt als Standort wählten, und die chinesische Kaufmannschaft, die für den Handel mit dem Hinterland unentbehrlich geworden ist. Automobile und Telefon, fließendes Was-ser und elektrischer Strom, dazu die Schantung-Eisenbahn mit Wagen auf doppelachsigen Drehgestellen, mit Dampfheizung und Aborten, lediglich in der billigen Klasse »zur Beförderung chinesischer Reisender« zweiachsig, ohne Sitze und mit sechs kleinen Fenstern.


Blick auf die Hafenbucht vor Tsingtau (1905) - Im Vordergrund angepflanzter Kiefernwald (Bundesarchiv)

An der Nordwestseite der Halbinsel liegen zwei Hafenanlagen: der Große oder Handelshafen mit Schwimmdock, Gleisanschlüssen und zwei Molen für größere Schiffe, die kaiserliche Werft auf einer natürlichen Insel. Der Kleine Hafen mit seiner 160 m langen eisernen Ladebrücke für Küstendampfer, Leichter, Segelschiffe, Sampans und seegehende Dschunken vor Tapautau. Die Einfahrt zur Bucht ist gut befeuert, Inseln und Untiefen mit den erforderlichen Seezeichen versehen. Die einst kahlen Hügel um Tsingtau sind aus sanitären und wasserwirtschaftlichen Gründen mit Laubbäumen, Akazien und Kiefern kräftig aufgeforstet. Damit die Täler des Lauschan ihren »reindeutschen Zug« erhielten, wurden Dörfler im ohnehin arbeitslosen Winter zu kostenlosen Anpflanzungsarbeiten herangezogen.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien

Wo man in Tsingtau feierte und gastierte


Das Strandhotel von Tsingtau

Beliebter Ausflugsort ist das legendenumwobene Lauschan-Gebirge auf der östlichen Halbinsel. Der Reiz der aus verschiedenen parallelen Ketten bestehenden Bergwelt entspricht ihrem Dolomitencharakter. Im Lauschan öffnen sich herrliche Fernsichten auf benachbarte Bergketten und den Küstenstrich. In ohnehin gesunden Höhen wächst, so wird erzählt, ein Wunderkraut, das Langlebigkeit oder gar Unsterblichkeit verspricht. Kulturellen Ansprüchen kommt eine durch Buchspenden »zur Förderung der geistigen Entwicklung und zur Belebung deutscher Gesinnung auf fremdem Boden« gut bestückte Bibliothek entgegen, dazu ein Verein für Kunst und Wissenschaft. Der gemischte Chor unter Marine-Kriegsgerichtsrat und Oberrichter Georg Crusen lädt zu Konzerten ins Seeheim oder Prinz-Heinrich-Hotel.


Die Marineablösung 1905

Zur Entspannung können sich die Tsingtauer während Lorzings »Zar und Zimmermann« auf eine holländische Schiffswerft, mit Tschaikowskys Dreiakter »Pique Dame« in den Sommergarten von St. Petersburg versetzen. Das Gesellschaftliche mochte etwas darunter leiden, dass die europäische Bevölkerung einer starken Fluktuation unterworfen ist: Soldaten kommen, bleiben in der Regel zwei Jahre und gehen wieder, Handelskontore wechseln Angestellte regelmäßig aus. Doch für Kurzzeit-Residenten wie für permanente Einwohner gibt es den Tennis-, Turn-, Krieger- und Vaterländischen Verein. Den Bergverein als Sektion des deutsch-österreichischen Alpenvereins und den Saanenziegen-Zuchtverein. Schwimmen, Boxen, Kegeln, Cricket, Polo, Fußball in der Halle oder unter freiem Himmel. Die Grillparty mit dem Leckerbissen Tsangkouschwein. Wer es sich leisten kann, reitet an Wochenenden zu den Prinz-Heinrich-Bergen, der Aufenthalt in einem der uralten Klöster stärkt Seele und Nerven.



Jährliche Höhepunkte neben dem Eintreffen der Ablösungsdampfer sind hochkarätige Besuche, Prominenz wie Johann Albrecht Herzog v. Mecklenburg, ein eifriger Förderer des Kolonialgedankens, oder der Hohenzollernprinz Heinrich v. Preußen. Tsingtaus beispielhafte Landordnung hat wilden Terrainspekulationen wie in Hongkong rechtzeitig den Riegel vorgeschoben. Der Verwaltung steht ein allgemeines Enteignungsrecht zu, was das Land, das für die Besiedlung durch Europäer vorgesehen ist, zu Kronland macht. Moderne hygienische Erkenntnisse wurden durchgesetzt. Ein Schwemmkanalsystem, das für seine Zeit richtungweisend ist, transportiert Fäkalien ins Meer, auf dem Land dient ein Eimer-Tonnen-Abfuhr System der einst so unkontrollierbaren Darmentleerung. Zur dringend notwendigen Aufbesserung des Trinkwassers sind die Grundwasserströme der Haipo- und Litsunflüsse angezapft.

Primärquelle: Längin, Die deutschen Kolonien